
Revision des schweizerischen Erbrechts
Autor·in: Etienne Jeandin
Veröffentlichungsdatum: 2020
Änderung vom 18. Dezember 2020, Inkraftsetzung 1. Januar 2023
Das schweizerische Erbrecht ermöglicht Erblassern neu eine grössere Verfügungsfreiheit über ihr Vermögen.
Grund für diese Revision:
Mit dieser Erbrechtsänderung wollte der Gesetzgeber in erster Linie die Verfügungsfreiheit des Erblassers vergrössern; insbesondere wollte er der in Europa ausgeprägten Tendenz zur Pflichtteilsreduktion der Nachkommen Rechnung tragen, da das schweizerische Recht derzeit eines der restriktivsten ist. Konkret bedeutet dies, dass der Erblasser mehr Spielraum bei der Verteilung seines Vermögens haben wird, insbesondere bei Patchworkfamilien oder im Zusammenhang mit der heiklen Übergabe von Familienunternehmen an die neue Generation. Massgebend für die Bestimmung des anwendbaren Pflichtteilsrechts ist das Todesdatum (vor oder nach dem 1. Januar 2023?).
Pflichtteile für vor dem 1. Januar 2023 eröffnete Erbgänge
Vor dieser Revision (das heisst in Bezug auf das bis zum 31. Dezember 2022 geltende Recht) wurde den Nachkommen, ungeachtet ihrer Anzahl, ein Pflichtteil von drei Vierteln (3⁄4) ihrer gesetzlichen Erbteile eingeräumt. So hat ein verwitweter oder geschiedener Erblasser mit zwei Kindern drei Viertel (3⁄4) seines Vermögens seinen Nachkommen zuzuweisen, wobei der Rest von einem Viertel (1/4) den «verfügbaren Teil» darstellt, die einer Drittperson oder einem der pflichtteilsgeschützten Erben zusätzlich zu seinem Pflichtteil zugewiesen werden kann.
Ebenso hat ein verheirateter Erblasser seinem Ehegatten (nach güterrechtlicher Auseinandersetzung) einen Pflichtteil von einem Viertel (1/4) zu wahren, wobei seinen Kindern ein Pflichtteil von drei Achteln (3/8) zusteht, insgesamt also Pflichtteile, die fünf Achtel (5/8) seines Nachlasses ausmachen. Der Rest entspricht einem Anteil von drei Achteln (3/8), den der Erblasser entweder einer Drittperson oder dem Ehegatten (der somit insgesamt einen Anteil von fünf Achteln erhält (5/8)) oder seinen Kindern (die dann einen Anteil von sechs Achteln erhalten (6/8) zuteilen kann.
Pflichtteile für ab 1. Januar 2023 eröffnete Erbgänge
Die wichtigste Änderung betrifft die Herabsetzung des Pflichtteils der Nachkommen, der neu die Hälfte und nicht mehr drei Viertel ihres gesetzlichen Erbteils beträgt.
Somit kann der Erblasser, verwitwet oder geschieden, über die Hälfte seines Nachlasses frei verfügen und nicht mehr nur über ein Viertel.
Ebenso hat der verheiratete Erblasser neu (nach güterrechtlicher Auseinandersetzung) Folgendes zu beachten:
- den Pflichtteil des Ehegatten in Höhe von einem Viertel (unverändert),
- den Pflichtteil seiner Nachkommen in Höhe von einem Viertel, der unabhängig von deren Anzahl unter seinen Kindern aufzuteilen ist,
das heisst Pflichtteile, die insgesamt die Hälfte seines Vermögens ausmachen, wobei die andere Hälfte dem einen oder anderen Kind bzw. dem Ehegatten zugewiesen werden kann (in diesem Fall kann der Ehegatte drei Viertel (3/4) des Nachlasses erhalten).
Muss man sein Testament neu verfassen?
Falls der geäusserte Wille des Erblassers lautet, einem seiner Erben «das maximal mögliche» oder umgekehrt «das Minimum (den Pflichtteil)» zuzuweisen, gelten die am Tag der Eröffnung des Erbgangs geltenden Pflichtteile, auch wenn das Testament vor dem 1. Januar 2023 verfasst wurde. Ein neues Testament ist somit nicht notwendig.
Wird hingegen im Testament ausdrücklich auf Bruchteile Bezug genommen (z. B. «drei Achtel für meine Kinder»), so werden die ausgedrückten Teilen unverändert angewendet, ohne dass von Amtes wegen davon ausgegangen werden kann, dass der Erblasser die Anpassung an die neuen Regeln gewollt hätte. Gegebenenfalls muss der Erblasser ein neues Testament erstellen, wenn er von den neuen Regeln Gebrauch machen will.
Abschaffung des Pflichtteils der Eltern
Nach den neuen Bestimmungen gehören die Eltern nicht mehr zu den pflichtteilsberechtigten Erben. Der kinderlose Erblasser (verheiratet oder unverheiratet) ist somit nicht mehr verpflichtet, seinen Eltern einen Pflichtteil zu übertragen. Er kann somit seinen gesamten Nachlass seinem Ehegatten zuweisen, dem in diesem Fall, nach güterrechtlicher Auseinandersetzung, ein Pflichtteil von drei Achteln (3/8) zusteht.
Was die Geschwister betrifft, so ist daran zu erinnern, dass sie nach schweizerischem Recht seit über dreissig Jahren nicht mehr pflichtteilsgeschützt sind.
Es ist jedoch festzuhalten, dass die Eltern und ihre Nachkommen zwar keine Pflichtteilsberechtigten sind, jedoch für den Fall, dass kein Testament vorliegt, weiterhin gesetzliche Erben sind. Eine verheiratete Person ohne Kinder muss daher berücksichtigen, dass ihr Ehegatte, sofern kein Testament errichtet wird, keinen Anspruch auf den gesamten Nachlass hat: ein Erbteil von einem Viertel (1/4) fällt diesfalls an die Eltern des Erblassers und bei deren Vorversterben an deren Nachkommen (Geschwister, Neffen und Nichten usw.). Dieser Aspekt des Erbrechts wird in der Praxis kaum beachtet und führt allzu oft zu schmerzlichen Missverständnissen für den überlebenden Ehegatten.
Pflichtteil des Ehegatten während der Trennung
In schwierigen Scheidungsverfahren kann es vorkommen, dass der Erblasser über viele Jahre an den Pflichtteil seines Ehegatten gebunden bleibt, der manchmal im Verdacht steht, das Verfahren absichtlich in die Länge zu ziehen.
Um diese Arten von Situationen zu klären, sieht das Gesetz vor, dass der Ehegatte ohne Vorliegen eines vor dem Todestag rechtskräftigen Scheidungsurteils künftig keinen Pflichtteilsanspruch mehr hat, wenn im Zeitpunkt des Todes ein Scheidungsverfahren auf gemeinsames Begehren hängig ist oder die Ehegatten während mindestens zwei Jahren getrennt gelebt haben.
Verfügungen von Todes wegen zugunsten des Ehegatten werden ohne gegenteilige Anordnung des Erblassers allein schon durch die Einleitung eines Scheidungsverfahrens, das zum Verlust des Pflichtteils des überlebenden Ehegatten führt, hinfällig (und nicht nur durch das Scheidungsurteil selbst).
Schutz der Begünstigten aus erbvertraglichen Verpflichtungen
Lange Zeit war die rechtliche Tragweite von erbvertraglichen Verpflichtungen des Erblassers zugunsten der übrigen Urkundsparteien umstritten. Wie kann beispielsweise eine Person geschützt werden, der im Todesfall die Zuwendung einer Immobilie versprochen wird, die der Erblasser aber nach Unterzeichnung des Vertrages durch eine Schenkung unter Lebenden oder in einem einseitigen Testament einer Drittperson zuwendet?
Das Gesetz schützt von nun an die Begünstigten der erbvertraglichen Verpflichtungen; sie können Schenkungen und Verfügungen von Todes wegen, die der Erblasser nach Abschluss des Erbvertrages gemacht hat und die mit seinen Verpflichtungen unvereinbar sind, im Todesfall gerichtlich anfechten (es sei denn, der Erblasser behält sich gemäss den Regelungen des Erbvertrages gerade das freie Verfügungsrecht über die Vermögenswerte nach Unterzeichnung des Erbvertrages vor!).
Pflichtteile ab 1. Januar 2023 – Übersicht
A) Gesetzliche Erben: Kinder und überlebender Ehegatte
Gesetzlicher Erbteil | Pflichtteil | Verfügbarer Teil | |
---|---|---|---|
Ehegatte | ½ | ¼ | ½ |
Kinder | ½ | ¼ | ½ |
B) Gesetzliche Erben: Kinder, ohne überlebenden Ehegatten
Gesetzlicher Erbteil | Pflichtteil | Verfügbarer Teil | |
---|---|---|---|
Kinder | 1/1 | ½ | ½ |
C) Gesetzliche Erben: Vater und Mutter, mit überlebendem Ehegatten
Gesetzlicher Erbteil | Pflichtteil | Verfügbarer Teil | |
---|---|---|---|
Ehegatte | 3/4 | 3/8 | 5/8 |
Mutter | 1/8 | Entfällt | 5/8|
Vater | 1/8 | Entfällt | 5/8
D) Gesetzliche Erben: überlebender Ehegatte, ohne Nachkommen der Eltern
Gesetzlicher Erbteil | Pflichtteil | Verfügbarer Teil | |
---|---|---|---|
Ehegatte | 1/1 | 1/2 | 1/2 |